Das Mantra in der vedischen Astrologie
Das Wort Mantra (auch Mantram, wörtlich: „Instrument des Denkens, der Rede“) besteht aus den Wortteilen man (denken; fühlen; wahrnehmen von „manas“: Denken; Verstand; das, was den Menschen ausmacht) und tram (helfende, schützende Kraft). Es handelt sich dabei um eine Wortfolge, oder auch nur um eine Silbe oder einen göttlichen Namen in der alten Sprache Sanskrit. Die Wiederholung eines Mantra bezeichnet man als Japa.
Es wird erzählt, dass indische Yogis als Meister der Kraft des Tones in der Lage gewesen seien, mit ihrer Stimme so stark gebündelte Töne hervorzubringen, dass sie Mauern einstürzen ließen. Noch sehr viel stärker soll die subtile Wirkung eines Mantrams auf das Bewusstsein und den Geist eines Menschen sein.
Im Kali Yuga, dem Eisernen Zeitalter, in dem wir uns nach Ansicht vieler indischer Gelehrter heute befinden, sei die Rezitation eines Mantras der leichteste Weg zu Gottesverwirklichung. Doch heute glaubt kaum noch jemand an diese Möglichkeit. Auch ich fand in den ersten Jahren meiner Beschäftigung mit Jyotish das Aufsagen von Planeten-Mantren eine Sache für leicht abgehobene Europäer, die im bunten Hinduismus eine Ersatzreligion gefunden haben.
Swami Sivananda sagt dazu: „Heutzutage haben viele gebildete Menschen und Studenten den Glauben an die Macht der Mantras verloren, weil das Studium der Wissenschaften diesbezüglich einen negativen Einfluss ausübt. Sie haben Japa ganz aufgegeben, was sehr bedauerlich ist. Sie sind hitzköpfig, überheblich und atheistisch. Ihr Gehirn und Geist haben eine gründliche Überholung und Spülung nötig!“ (1)
Diese in der heutigen Zeit wirklich nötige Überholung und Spülung des Geistes könnte eine häufige Wiederholung einer Sanskrit-Wortfolge also bewerkstelligen?
Wort und Ton als Schöpferkraft
In der Bibel heißt es im ersten Kapitel des Johannes-Evangeliums: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbe war im Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist. In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen.“
Etwas bedenklich stimmt die Verwendung der Vergangenheit: das Wort war bei Gott – und heute? Immerhin erstaunt, dass „alle Dinge“ durch „das Wort“ gemacht sind und in ihm „Leben“ war, das den Menschen „Licht“ sein kann.
Auch in anderen Schöpfungsmythen spielt das Wort eine wichtige Rolle:
„Am Anfang sprach Ptah Worte, und die Welt wurde ins Leben gerufen.“
(Antike Nubische Hyroglyphentafel) (2)„Im Anfang war Prajapati. Mit IHM war VAK (das Wort), und VAK war wahrhaftig der höchste Brahma.“ (Rig-Veda) (2)
Nach Heinrich E. Benedikt ist die Hervorbringung des Universums „allein eine Entfaltung Seines Wortes. Die Schwingung und Entfaltung Seines Gedankens, Seines Wortes in Seinem Bewusstsein, die aus Seinem Willen hervorkommt (…)“. (3)
Wort und Ton („schwingende, sich entfaltende Gedanken“) sind demzufolge schöpferische, lebendige Kräfte, die den Menschen erleuchten können.
Der Ton macht die Musik
Es kommt vielleicht nicht nur darauf an, eine Wortfolge zu wiederholen. Heute nennen die Anhänger der verschiedensten fernöstlichen Glaubenswege den Vorgang „Mantren chanten“. Chanten ist hier im Sinne des englischen Verbs to chant = singen gemeint. Mantren werden also gesungen. Manche Autoritäten legen großen Wert darauf, dass der Chantende die Sanskrit-Worte korrekt ausspricht, denn im Sanskrit als alte, heilige Sprache stecke in den Klängen selbst bereits spirituelle Kraft. Schon allein dieser Umstand ließ mich viele Jahre zurückschrecken, mich näher mit diesem Thema zu beschäftigen. Wer weiß, ich hätte vielleicht in meiner Unwissenheit noch die falschen Mauern einstürzen lassen.
Der indische Yoga-Gelehrte Swami Sivananda meint hierzu beruhigend: „Kümmere dich nicht um Dinge wie Matra (Versmaß), Para (das Höchste, Absolute) und Pasyanti (ätherische Töne). Wiederhole das Mantra deiner persönlichen Gottheit mit Gefühl (Bhava), im Bewusstsein seiner Bedeutung. Dann wirst du den spirituellen Nutzen merken.“ Und: „Mantra-Wiederholung kann dem Übenden die Verwirklichung seines höchsten Zieles bringen, selbst wenn er die Bedeutung des Mantras gar nicht kennt. Mit einem solchen mechanischen Japa dauert es ein bisschen länger bis zur Verwirklichung als in voller Kenntnis der Bedeutung. In den Mantras liegt eine unbeschreibliche Kraft (Achintya Shakti). Konzentriert man sich bei der Mantra-Wiederholung auf seine Bedeutung, erreicht man schnell Gottesbewusstsein.“ (1)
Wort und Ton als Resonanz des Göttlichen
Ein Ton kann sichtbar gemacht werden. Streut man Sand auf eine Trommel und schlägt sie an, gerät der Sand in Vibration und ordnet sich nach bestimmten Mustern. Schlägt man auf einem Saiteninstrument eine Saite an, vibrieren alle anderen Saiten, die mit diesem Ton in Resonanz stehen, und erzeugen einen analogen Ton. Ton schafft Resonanz.
Tönt die alte, heilige Sprache Sanskrit in uns mit ihren göttlichen Namen, resoniert das Göttliche dieser Worte und ihres Klanges mit dem Göttlichen in uns. Dieser Klang kann laut oder lautlos sein. Es geht auch nicht unbedingt um den Inhalt des Worts, sondern um die Resonanz, die sein Klang in uns erzeugt. Wir verbinden uns in unserem Bewusstsein mit jedem Ton und Wort immer mehr mit der Quelle des Seins.
Die Rückverbindung mit dem Sein durch Wort und Ton lässt wiederum den Geist, diesen ewig plappernden und herumhüpfenden Affen in uns, zur Ruhe kommen und schweigen.
Mantra im Ayurveda und Jyotish
Der vedische Astrologe und Ayurveda-Experte David Frawley schreibt: „Mantra bedeutet das, was den Geist oder Manas rettet.“ (4) Empfiehlt ein vedischer Astrologe das Rezitieren eines Mantras für einen Planeten, so in der Regel aus dem Grund, da dieser Planet in unserem Horoskop aus dem Gleichgewicht geraten ist – oder unseren Geist aus der Zentrierung im Sein, aus der Mitte, herausreißt.
Frawley vergleicht jeden Satz, jeden Gedanken, den wir im Bewusstsein oft wiederholen, mit einem Mantra, das unseren Geist konditioniert. Gedanken des Hasses, des Zornes, der Wünsche nach Erfolg oder Anerkennung wirken dabei nicht heilend und zentrierend, sondern verfestigen die Ignoranz und Unruhe in unserem Geist. Es bedarf heilender Sätze aus heiligen (= heilenden) Worten, um den aus den Fugen geratenen Geist (Manas) zu besänftigen.
Mantras können also schöpferische, heilende und transformative Kräfte in uns entfalten.
Anwendung der Planeten-Mantras
Das Rezitieren eines Planeten-Mantras transformiert die Ausdrucksweise dieses Planeten in unserem Leben. Im Grunde kann man nichts falsch machen mit dem Singen eines Planeten-Mantras. Es ist eine gefahrlosere vedische Hilfsmaßnahme als das Tragen von Edelsteinen oder die Einnahme von Kräutern. Ist die Ausdrucksweise eines Planeten in unserem Horoskop sehr schwierig, kann der entsprechende Edelstein diese Schwierigkeiten unter Umständen noch verstärken. Ein Mantra wirkt jedoch immer besänftigend und heilend.
Es empfiehlt sich, ein Planeten-Mantra wenigstens 108 mal zu wiederholen. 108 ist im Hinduismus und Buddhismus eine heilige Zahl. Multipliziert man die zwölf Zeichen mit den neun Planeten, erhalten wir die 108. Das häufige Wiederholen des Mantras erzeugt in uns eine leichte „Trance“, die beruhigend auf den Geist wirkt. Er wird ein wenig abgelenkt, da er sich auf die Worte und den Klang konzentrieren kann, so wie wir einem Affen oder einem Haustier ein Spielzeug geben, mit dem es sich beschäftigen kann und zunächst davon abgelenkt wird, weiter Unsinn zu treiben.
Wiederholt man das Planeten-Mantra 108 mal, dauert dies etwa sieben bis zehn Minuten, in denen der Geist zur Ruhe kommen kann. Sehr wichtig ist die nachfolgende Stille, nachdem das Mantra zum letzten Mal laut ausgesprochen wurde. In diese Stille kann unser Geist eintauchen. In dieser Stille sind wir im Sein, im Zentrum.
Da die Anwendung der planetaren Mantras praktisch keine Nebenwirkungen hat, empfiehlt es sich, vor allem die natürlichen oder temporären Übeltäter in unserem Horoskop zu besänftigen. Dies können die Herrscher der Upachaya Häuser 3, 6 und 11 sein, aber auch Planeten im Fall, im Zeichen eines großen Feindes oder in einem Dushtana (6., 8. und 12. Haus). Insbesondere, wenn das Maha Dasha oder Bhukti eines solchen schwierigen Planeten beginnt, ist die Einstimmung auf sein Mantra ein wertvolles Mittel zur Stabilisierung des Geistes während der Dauer des Dashas.
Besondere Kraft sollen diese Mantras entfalten, wenn sie am Tag und der Stunde gesungen werden, die dem jeweiligen Planeten zugeordnet werden. (5)
Ishta Devata
In Indien ist es weit verbreitet, Gott (oder das Göttliche) in Form einer speziellen, persönlich bevorzugten Gottheit zu verehren und anzubeten. Diese spezielle Gottheit wird Ishta Devata (sanskrit. „verehrte Gottheit“) genannt.
Der persönliche Ishta Devata soll in allen Lebenslagen, vor allem natürlich in den schwierigen, unterstützend und leitend wirken. Vor allem soll die Verehrung des Ishta Devata die Erlangung von Moksha ermöglichen, die endgültige Befreiung von Täuschung, Illusion und dem Rad der Wiedergeburten.
Literatur:
(1) Japa Yoga (Swami Sivananda)
(2) Universal Path
(3) Heinrich E. Benedikt: Die Kabbala als jüdisch-christlicher Einweihungsweg Band 1, Bauer-Verlag ISBN 3-7626-0279-4
(4) Dr. David Frawley: Der Geist des Ayurveda, Windpferd-Verlag, ISBN 3-89385-304-9
(5) Planetenstunden
Beispiele für Planeten-Mantras finden sich bei YouTube