Der aufgewühlte Ozean – Samudra Manthan
Fast jeder Hindu kennt die Geschichte vom Aufwühlen des Milchozeans aus dem Mahabharata, dem Ramayana oder den Puranas.
Es war einmal vor langer Zeit, da verlor Indra, der Herrscher der Götter (Adityas), seine Macht und sein Königreich, weil er es an Respekt gegenüber einem alten Weisen mangeln ließ. Indra wandte sich an Gott Brahma um Hilfe, der ihm den Rat gab, im Milchozean nach Amrita zu suchen, das ihm seine Unsterblichkeit wieder zurückgeben könnte. Für dieses außerordentliche Unterfangen bedürfe er aber der Hilfe sowohl der Götter als auch der Dämonen (Asuras).
Die Götter und Dämonen waren dazu bereit und taten sich zusammen, um Amrita zu finden, den Nektar der Unsterblichkeit. Sie nahmen den kosmischen Berg Mandara als gigantischen Rührstab und den Herrscher der Unterwelt, die Schlange Vasuki, als Seil, und mit diesen beiden Hilfsmitteln rührten und wühlten die Götter und Dämonen für längere Zeit den Ozean auf. Zunächst gingen Tiere und Pflanzen in dem stärker werdenden Tosen unter, dann tauchte aus den aufgeschäumten Wassern Milch auf, die durch das andauernde Rühren allmählich zu Butter wurde. Nach einer Weile kam ein gefährliches Gift, Kalakuta, an die Oberfläche, das Gott Shiva verschlucken musste, um die Zerstörung der Welt zu verhindern.
Danach tauchten nacheinander verschiedene Schätze, Ratnas, an die Oberfläche des Ozeans: Sura, die Göttin des Weines; Apsaras (göttliche Nymphen); Kaustubha, das wertvollste Juwel der Welt; das 7-köpfige Pferd Uchhaishravas; der wunscherfüllende Baum Kalpavriksha; Kamadhenu, die erste Kuh und Mutter aller Kühe; der Elefant Airavata, Gott Indras Reittier; Lakshmi, die Göttin des Glücks und des Reichtums; der Baum Parijat und der Mond Chandra. Zum Schluss tauchte der Himmlische Arzt Dhanvantari auf und hielt ein Gefäß mit Amrita in seinen Händen.
Die Dämonen wollten Amrita für sich allein haben und griffen nach dem Gefäß, in dem sich der Trank befand. Doch bevor sie davon trinken konnten, um Unsterblichkeit zu erlangen, griff Gott Vishnu ein. Er verwandelte sich mithilfe von Maya (Illusion) in Mohini, eine Zauberin, und näherte sich so den Dämonen, die ihn nicht erkannten. Sie waren so angetan von Mohinis Erscheinung, dass sie ihr den Nektar gaben. Vishnu ließ nun die Götter Amrita trinken, damit sie Unsterblichkeit erlangen konnten.
Ein Dämon, Rahu, ließ sich jedoch nicht von Mohini täuschen. Er durchschaute das Spiel und mischte sich unerkannt unter die Götter und kam so in den Besitz von Amrita. Er nahm einen Schluck, doch in diesem Moment erkannten ihn Surya, die Sonne und Chandra, der Mond, und verrieten ihn an Vishnu, der sofort seinen Diskus, das Sudarshan-Chakra, nach Rahu warf. Der Diskus trennte Rahu den Kopf ab, aber da Amrita schon seine Kehle duchfloss, erlangte er Unsterblichkeit. Er stieg zum Himmel auf, während sein kopfloser Rumpf Ketu die Erde erzittern ließ. Seit dieser Zeit herrscht Feindschaft zwischen dem unsterblichen Dämon Rahu und den beiden Göttern Sonne und Mond. Immer wieder verschluckt Rahu die Sonne und den Mond, muss sie bald danach aber wieder ausspucken, denn auch sie sind unsterblich.
Symbolische Bedeutung des Mythos
Die Geschichte kann als eine Darstellung des Weges zur Verwirklichung des wahren (transpersonalen) Selbst gesehen werden. Indra ist die Hauptfigur, so wie in uns das persönliche Ich zunächst im Mittelpunkt steht. Die Götter und Dämonen symbolisieren die positiven und negativen Kräfte innerhalb unserer Persönlichkeit. Nur alle gemeinsam können das Ziel erreichen, d.h. positive und negative Kräfte in uns müssen integriert und harmonisiert werden, um Selbst-Verwirklichung zu erlangen. Die Psychosynthese beschreibt ebenfalls einen Prozess, der sämtliche Aspekte der Persönlichkeit zu einem harmonischen Ganzen vereint, um so eine Basis für die spirituelle Psychosynthese zu bereiten, die der Selbst-Verwirklichung im Hinduismus entspricht.
Der Ozean ist Symbol für das menschliche Bewusstsein, die Gedanken und Emotionen sind Wellen in diesem Ozean. Der Berg Mandara symbolisiert Konzentration. Das Wort Mandara setzt sich zusammen aus „Manas“ = Denken, Bewusstsein, Verstand und „Dhara“ = eine einzelne Linie. Das Denken soll „geradlinig“ sein, was nur durch Konzentration möglich ist.
Die Schlange Vasuki steht für unsere Wünsche und Begierden. Gemäß dem Mythos ergreifen unsere positiven und negativen Persönlichkeitsräfte die Begierde nach Unsterblichkeit (eigentlich nach wahrer Selbst-Verwirklichung) wie ein Seil und wühlen mit Hilfe der Konzentration (der Berg Mandara) das Denken und Bewusstsein auf.
Das dabei erscheinende Gift Kalakuta ist Symbol für Leiden und Schmerz, die besonders zu Beginn des spirituellen Weges intensivst erlebt werden können. Wenn das Bewusstsein einer andauernden Konzentration unterworfen wird, kommt zunächst oft seelischer Schmerz und innerer Aufruhr zum Vorschein, die bislang unerkannt im Dunkeln des Unbewussten verborgen waren. Diese wollen bewusst gemacht, aufgelöst und harmonisiert werden, um auf dem Weg voranschreiten zu können. Gott Shiva schluckte das Gift, womit zum Ausdruck gebracht werden soll, dass die Qualitäten, die diesem Gottesaspekt zugeordnet werden – Mut, Willen, Disziplin, Bereitschaft, Einfachheit, Wahrhaftigkeit, Losgelöstheit, Mitleid, reine Liebe und Enthaltsamkeit – dabei helfen können, mit diesen anfänglichen Problemen auf dem spirituellen Weg fertig werden zu können.
Die wertvollen Kostbarkeiten, die Ratnas, welche außerdem aus dem Ozean aufsteigen, stehen für die psychischen oder spirituellen Kräfte, die durch geistigen Fortschritt gewonnen werden. Sie sind jedoch nicht das eigentliche Ziel des Weges sondern lediglich Begleiterscheinungen.
Der Himmlische Arzt Dhanvantari weist darauf hin, dass spiritueller Erfolg (Unsterblichkeit, wahre Selbst-Verwirklichung) nur erreicht werden kann, wenn Körper und Geist heil und gesund im Gleichgewicht sind. Mohini symbolisiert eine Trübung des Geistes in Form von Stolz. Die Dämonen verfielen dem Stolz und weltlicher Verblendung (Maya), als sie Amrita bereits in ihren Händen hatten, und verloren so das eigentliche Ziel aus den Augen. Stolz und Egoismus sind die letzten Hürden auf dem Weg zu wahrer Selbstverwirklichung, für die Amrita Symbol ist.
Astronomische Bezüge
Die Geschichte kann auch in unsere physische Welt übertragen werden. Der Astrologe und Veden-Experte Dr. David Frawley identifiziert den Milch-Ozean als unsere Galaxie, die Milchstraße. Die Götter repräsentieren die Sterne des nördlichen Himmels, während die Dämonen die Sterne des südlichen Himmelsgewölbes symbolisieren. Das Seil bzw. die Schlange ist der Zodiak, der den scheinbaren Lauf der Sonne durch die zwölf Zeichen markiert. Der Berg Mandara ist die Erdachse. Die Rotation dieser Erdachse (das Rühren) legt den Wechsel von Tag und Nacht fest, und durch die Präzession der Erdachse auch das Große oder Platonische Jahr, dessen Dauer gewöhnlich mit 25.920 Jahren angegeben wird. Die Präzession rührt quasi den Sternenhimmel der Milchstraße um, wobei sich im Lauf der Jahrtausende der Sternenhimmel allmählich verändert. Wo beispielsweise vor 2000 Jahren bei Frühlingsanfang noch das Sternbild der Fische begann, befindet sich heute das Sternbild Wassermann.
Rahu ist in der vedischen Astrologie der nördliche, aufsteigende Mondknoten, während Ketu der südliche, absteigende Mondknoten ist. Befinden sich Sonne und Mond in ihrer Nähe, d.h. werden sie in einer Finsternis verdunkelt, sind sie scheinbar von Rahu verschluckt, wie es auch der Mythos erzählt. Da aber nach kurzer Zeit die Finsternis wieder zu Ende geht, muss der Dämon Rahu Sonne und Mond wieder freigeben. Da alle drei unsterblich sind, wiederholt sich dieses Spiel immer wieder bis in alle Ewigkeit.
Quellen:
Die indischen Epen Mahabharata I, 17-19; Vishnu Purana; Ramayana
David Frawley: In Search of the Cradle of Civilization
© Birgit Braun
Erschien 2007 im Astrolog – Zeitschrift für Astrologische Psychologie